Der Aufbau und die Funktion der Bebilderung
Den entscheidenden Teil eines Stundenbuches bilden die nach Stunden eingeteilten Texte des Marien- und des Toten-Offiziums. Sie setzen sich aus Psalmen und Cantica sowie kürzeren Bibelstellen vornehmlich aus dem Hohen Lied und Jesus Sirach zusammen. Hinzu kommen in solchen Offizien unterschiedliche, nichtbiblische Gebets- und Betrachtungstexte. Direkte Anspielungen auf Maria beziehungsweise die Toten sind zwar regelmäßig, aber in erstaunlich geringer Zahl enthalten. Das Auftreten dieser Offizien grenzt echte Stundenbücher gegen sonstige Gebetbücher ab.
Als unverzichtbare Teile eines gewöhnlichen Stundenbuches kommen zum Marien- und zum Toten-Offizium neben den Horen von Hl. Kreuz und Hl. Geist hinzu: das Kalendarium, in aller Regel am Beginn des Buches; die Sieben Bußpsalmen, gefolgt von der Heiligenlitanei und Gebeten; dem Toten-Offizium folgen so genannte Suffragien, also Fürbittgebete. Sehr häufig tritt eine kleine Anzahl von Evangelienabschnitten, die Perikopen, direkt im Anschluss an den Kalender auf: der Beginn des Johannes-Evangeliums (Joh. 1,1-14), die Verkündigung an Maria (Lk 1, 26-38), die Anbetung der Weisen aus dem Morgenland (Mt 2, 1-12) und die Erscheinung des Auferstandenen sowie die Himmelfahrt (Mk 16, 14-20). Etwas seltener findet sich, ganz oder abschnittsweise, die Passion nach Johannes


(Joh 18,1-19,38) meist im Anschluss an die anderen Perikopen, so dass den Stundengebeten eine Erzählfolge von der Fleischwerdung bis zur Passion einschließlich der Himmelfahrt vorangestellt ist.
Sichtbar gemacht wird das jeweilige Ziel der Andacht im Stundenbuch durch die Miniaturen, die die einzelnen Abschnitte einleiten und gerade wegen ihrer Eigenständigkeit als konstitutiver Bestandteil den Text ergänzen und die Gedanken des Beters in eine ganz eigene, nicht selten textferne Richtung lenken, da der sichtbar gewordene Heilsgegenstand, der während des Betens betrachtet werden sollte, im Gebetstext meist nicht erwähnt wird. Bei der Vielfalt an Möglichkeiten der Zuordnung von Miniatur und Text darf ein wesentlicher praktischer Sinn der Bebilderung nicht außer Acht gelassen werden: Schon ornamentaler Buchschmuck als Initiale oder Bordüre erleichtert das Auffinden der einzelnen Texte, Bildmotive charakterisieren die Abschnitte inhaltlich und ersparen Titel, die das Mittelalter ohnehin nicht kannte, ebenso wie Rubriken. Bilder als Merkzeichen zum Auffinden einer Textstelle oder zur Veranschaulichung des geistlichen Textgehaltes stehen sinnvollerweise direkt am Textanfang, sind also Teil des Initialdekors, der die Grundlage fast des gesamten mittelalterlichen Buchschmucks bildet.
     
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