Begriff und Funktion
Das Wort "Stundenbuch" hat zumindest seit Rilke einen geradezu poetischen Klang; es bezeichnet etwas Kleines, Intimes, Vertrautes. Sicher schwingt selbst für diejenigen, die von der historischen Wirklichkeit eines solchen Buches nichts wissen, eine Ahnung von Frömmigkeit mit. Zeit spielt hinein, ein wenig von der Melancholie des Stundenglases.
So enthält die Bezeichnung für dieses Kompendium meist anonymer Texte in allen europäischen Sprachen den Bestandteil "Stunden"; im Englischen und Französischen kann man sogar noch heute einfach von "Hours" oder "Heures" reden und dabei dem Lateinischen näher sein, das ohne jeden Zusatz den Begriff "Horae" für die Buchgattung bevorzugt. Gemeint sind damit Gebetseinheiten, die über den Tageslauf nach der Stundeneinteilung der Römer verteilt waren. Sie richten sich nach festen Uhrzeiten und im Jahreslauf variablen Tageszeiten. Die Uhrzeiten, alle Tage des Jahres gleich, beginnen mit der Prim (6 Uhr morgens), wobei nur jeder dritte Stunde, nämlich Prim, Terz, Sext und Non, eine Gebetseinheit zugeordnet ist. Hinzu kommen die Nacht, in der Mönche in dreistündigem


Abstand die Nokturnen der Matutin zu beten haben, die sich für Laien rasch zu einer Einheit vor Sonnenaufgang reduzieren, sowie, vom Jahresablauf abhängig, der Sonennaufgang selbst (Laudes), der Sonnenuntergang (Vesper) und der Einbruch der Nacht (Komplet). In der Folge von Matutin, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet ergeben sich acht oder, bei der für Laienbrauch bequemen Zusammenfassung von Matutin und Laudes, sieben Einheiten.
Schon früh hatte sich die Gebetspraxis der Mönche nach dieser Tageseinteilung gerichtet. Aus ihr entstand das Brevier, das freilich nicht nur nach den Stunden des Tages, sondern auch nach den Sonntagen des Kirchenjahres im Temporale und nach den Heiligentagen des Jahres im Sanktorale eingeteilt ist. Dem Laien war ursprünglich neben unstrukturierten Gebetssammlungen nur das Psalterium als Andachtsbuch zugedacht. Es wuchs jedoch der Wunsch, Elemente des geistlichen Gebets vereinfacht für Nonnen und dann auch für Laien zugänglich zu machen.
     
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