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Jean Tavernier, in: David
Aubert, "Chroniques et Conquetes de Charlemagne",
1458-60, Brüssel, KB, ms. 9068, fol. 96v |
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Das Interesse am Text
Wenn Geschichte im Mittelalter vor allem der Belehrung
diente und Fürsten die Taten großer Herrscher als mahnende
oder positive Exempla zu nutzen hatten, so müssen Regierung und
Eroberungen Karls der Großen für Philipp den Guten selbstverständlich
von Interesse gewesen sein. Die Sage machte ihn sogar zum Eroberer
des Heiligen Landes. Als Herrscher, der es verstand, sein stetig expandierendes
Reich im Inneren zu einen und zu festigen, und auch als Hochgebildeter
Monarch, der in seinem Land Bildung, Kunst und Literatur förderte,
eignete sich der sagenumwobene erste Kaiser des Mittelalters als vorzügliches
Vorbild für einen selbstbewussten Fürsten.
Tatsächlich wurde Karl der Große jedoch nicht nur aufgrund
seiner historischen Bedeutung zum Vorbild erwählt. Als König
der Franken ist er fester Bestandteil der Ahnengalerie der französischen
Könige, einer Blutslinie, der auch Philipp der Gute angehörte.
Eine entsprechende genealogische Darstellung findet sich auf fol.
96v des dritten Bandes. Über den ihm zugewiesenen Status als
erster Graf von Flandern bot sich Philipp dem Guten zudem ein zweiter
genealogischer Strang, der im burgundischen Herzog seinen vorläufigen
Höhepunkt fand.
Aus der eigenen Vergangenheit holt sich Philipp seine Vorbilder. Das
Blut des großen Herrschers fließt auch in ihm und stützt
seine ehrgeizigen Machtbestrebungen. Philipps Interesse an einem Werk
über Karl den Großen fügt sich damit in die legitimierende
und nobilitierende Funktion historischer Literatur ein, deren gesamte
Entwicklung am burgundischen Hof somit erstaunlich persönlich
motiviert erscheint, da sie ihr Ziel immer in der Gestalt des burgundischen
Herzogs findet. |
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