Loyset Liedet, in: "Histoire de Charles Martel", 1467-72, Brüssel, KB, ms. 6, fol.9


Karl der Kühne
Nach dem Tode seines Vaters ließ Karl der Kühne 17 noch unfertige Handschriften unterschiedlichster Gattungen aus dessen Bibliothek in Serie durch den vielbeschäftigten Brügger Buchmaler Loyset Liedet ausmalen. Sein eigenes bibliophiles Interesse galt, angeregt von seiner Mutter Isabella von Portugal, vorwiegend der klassischen Literatur. Werke von Xenophon, Quintus Curtius, Cicero und Julius Cäsar wurden für ihn ins Französische übersetzt. Moralische Exempla, staatliche Führungsmodelle und Lehrschriften stehen im Vordergrund. Von einer wirklich humanistischen Tendenz in Burgund wird man zu seiner Zeit jedoch noch nicht sprechen können. Wieder sind griechische Texte nur durch Vermittlung lateinischer vorhanden.
Aus dem Bereich der Historiographie ist erstaunlicherweise nur die Übersetzung der Chronik von Pisa zu nennen. Zudem etablierte sich unter dem letzten Burgunderherzog eine neue Buchgattung. Administrative Verordnungen, die traditionell auf Schriftrollen oder einfachen Urkunden festgehalten wurden, ließ er in Buchform bringen und mit Schriftdekor, manchmal sogar Bildschmuck, ausstatten (als Beispiel: London, British Library, Add. Ms. 36619). Auch wenn ihn seine Zeitgenossen immer wieder als großen Buchliebhaber darstellten, hat Karl der Kühne doch verhältnismäßig wenige Werke in Auftrag gegeben und erworben. Sein eigener herrschaftlicher Anspruch und die politische Landschaft, die sich ihm bot, ließen ihn doch häufiger zum Schwert denn zum Buche greifen. Einige liturgische und paraliturgische Handschriften von außerordentlicher Qualität, so zum Beispiel ein kleines Gebetbuch, welches sich heute in Los Angeles befindet (The J. Paul Getty Museum, ms. 37), haben sich dennoch erhalten.

     
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