Wer ist verantwortlich?
Die angeführten Beispiele lassen vermuten, dass der Verantwortungsbereich der "Escripvains" die reine Transkription der Texte bei weitem überstieg. Die Anfertigung einer spätmittelalterlichen Prachthandschrift ist ein teures und komplexes Verfahren. Für die einzelnen Arbeitsschritte, von der Auswahl des Pergaments über die Festlegung von Layout, Reinschrift, Schriftdekor und Miniaturen bis zur Bindung, müssen eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitskräfte angenommen werden. Ebenso wesentlich ist es jedoch, eine Person vorauszusetzen, der die Konzeption des Gesamtprojekts unterstand und die die Arbeiten zu delegieren wusste.
In der Reihenfolge des Herstellungsprozesses von spätmittelalterlichen Handschriften steht nach der Auftragsvergabe das fertige Schriftbild in aller Regel vor der Einfügung der dekorativen Ausstattung.



Beim hier gegebenen Denkmodell der Arbeitsfolge hätte eigentlich der Auftraggeber überall Herr des Verfahrens bleiben können. Er könnte das Pergament selbst erwerben und danach ebenso eigenmächtig die Werkstätten der Schreiber, Maler und Buchbinder aussuchen. Doch dass sich ein Fürst des 15. Jahrhunderts derartig mit den Bedingungen des Markts und den angebotenen Arbeitsqualitäten vertraut gemacht hätte, scheint fast ausgeschlossen. Vor allem die Fürsten, die ein völlig neues Werk in Auftrag geben wollten, musste sich deshalb auf Persönlichkeiten verlassen, die abschätzen konnten, was den hohen Herrn gefallen mochte, und Einblick in die Möglichkeiten der Ateliers hatten. Über solche Kompetenz verfügten Wauquelin, Miélot und David Aubert.

Exkurs: Aufgabenverteilung im Spiegel des Dialogus Creaturarum (E.K.)
     
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