Überblick

Wenn hier vom goldenen Zeitalter der burgundischen Buchmalerei die Rede ist, dann kann damit weder die ganze Zeit noch das vollständige Gebiet des Herzogtums gemeint sein. Die ersten beiden Herrscher, Philipp der Kühne (1363-1404) und Johann Ohnefurcht (1404-1419) verfolgten ihre politischen Interessen in Paris und waren für lange Perioden sogar die eigentlichen Herren der Metropole. Als Bibliophiler hohen Ranges wetteiferte Philipp mit seinen Brüdern, dem König Karl V. ebenso wie Jean de Berry, um den bedeutendsten Bücherbesitz. Sein Sohn Johann Ohnefurcht setzte diese Neigung fort; und was bei dessen Tod 1419 inventarisiert wurde, braucht den Vergleich mit den Bibliotheksschätzen des berühmteren Herzogs von Berry keinesfalls zu scheuen. Wer nun in Paris wirkte, mit Brüdern und Neffen um die Hauptstadt stritt und dort immer wieder auf lange Zeit residierte, der hatte es nicht weit, die prachtvollsten Handschriften mit den besten Miniaturen zu erwerben. Deshalb gehört der Beginn burgundischer Buchpflege zur Geschichte der Pariser Kultur und der Pariser Buchmalerei.

Erst Philipp der Gute, der sich nach der Ermordung seines Vaters, verstärkt gegen Ende der 1420er Jahre, aus den Geschäften des Königreiches zurückziehen mußte, regte als Mäzen eine burgundische Buchkunst eigenen Rechts an. Dabei halfen die kriegerischen Umstände mit, die Paris für Illuminatoren und Schreiber zu einem zunehmend unwirtlichen Pflaster werden ließen. Auch ohne Hoffnung auf große Auftraggeber hatte sich nach der französischen Niederlage von 1415 mancher Künstler aus der umkämpften Metropole zurückgezogen; in der Folgezeit floh man vor Bürgerkrieg ebenso wie vor Hungersnöten, die in der 1420er Jahren das Bild bestimmten. In Amiens siedelte sich schon früh große Buchmalerei an. Von der Pikardie, dem Artois und von Tournai aus wurde dann jene neue Kunst inspiriert, die wir hier als das goldene Zeitalter der burgundischen Buchmalerei bezeichnen und die sich, vor allem in Brügge, Brüssel und Gent bis etwa 1520 in eigener Gestalt bewahren sollte.

Wie der Titel bereits verrät, ist dieser Kurs als Einführung in die Buchmalerei konzipiert und richtet sich entsprechend an Anfänger, von denen keine Vorkenntnisse erwartet werden. Der Begriff der Einführung tritt hier in doppelter Bedeutung auf: Ziel ist zum einen, den Studenten und Studentinnen sowohl das notwendige Handwerkszeug zur Beschreibung und Erfassung von Handschriften im allgemeinen zu vermitteln als auch Fragestellungen vorzuführen, die im analytischen Umgang mit illuminierten Büchern, zunächst unabhängig von Zeit und Ort ihrer Entstehung, grundsätzlich zu beachten sind. Zum anderen wird hier, wie ebenfalls dem Titel zu entnehmen ist, in eine für die Kunstproduktion des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit außerordentlich bedeutsame Kultur eingeführt. Neben der burgundischen Plastik, die sich in der kunsthistorischen Forschung vor allem mit dem Namen Claus Sluter verbindet, und der Tafelmalerei der sogenannten Altniederländer, die im 15. Jahrhundert ein über Landesgrenzen hinweg geschätztes Gegengewicht zu den Errungenschaften der italienischen und französischen Malerei darstellte, sind die burgundischen Kunstsammlungen vor allem für ihre prächtigen illuminierten Bücher bekannt.

Im Bereich der Buchkultur ist Burgund von etwa 1420 bis um 1520 als Kunstzentrum eigenen Rechtes zu verstehen. Den Einflüssen der französischen und der italienischen Malerei durchaus unterworfen, aber ebenso auf andere Kunstlandschaften, ja, bis nach England ausstrahlend, setzt sich Burgund von den französischen Nachbarterritorien, abgesehen von jenen, die auf das engste mit der französischen Krone verbunden sind, ab. Kaum eine andere, mit einem französischen Herzogshof verwobene Kunstproduktion ist so wenig provinziell zu begreifen wie die burgundische.

Auch wenn der Begriff der Einführung im Zusammenhang mit einem so stark geographisch und zeitlich begrenzten Gegenstandsfeld zunächst bescheiden anmutet, so geschieht er hier doch aus zwei Gründen: Zum einen entspricht er der Überzeugung, daß die burgundische Buchkunst des 15. Jahrhunderts durchaus repräsentativen Wert besitzt. Zum anderen bietet die Einschränkung auf ein klar definiertes und stark eingegrenztes Feld den Vorteil, tiefer in Fragen nach Funktion und Stellenwert von Büchern im Spätmittelalter eindringen zu können. Anspruch und Motivation der bibliophilen Auftraggeber, Produktionsprozesse und künstlerische Vielfalt im Umgang mit dem Medium Buch sind als methodische Fragestellung im Umgang mit Bildern in Büchern unverzichtbar, können jedoch, sollen sie nicht rein abstrakt bleiben, nur in Anbindung an ein begrenztes Feld veranschaulicht werden.